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Heft 3/2025: Gewalt & Gewaltschutz

Die Ausgabe 3/2025 erscheint am 15. Juli 2025 und ist als Print und als E-Paper verfügbar.

  • „Früher war es nicht so schön” - Daniela Schmidt
  • Typologie der Gewalt - Dr. Gudrun Silberzahn-Jandt
  • Die Würde des Menschen ist (un)antastbar - Julia Feldewerth
  • Eine rechtsphilosophische Umschau zum Thema Gewalt - Prof. Dr. David Kuch
  • Das Schweigen brechen und handeln - Prof. Dr. Ingeborg Thümmel
  • Schutz und Selbst bestimmung - Dr. Karolin Kuhn
  • „Ich schreie zu dir: Gewalt!“ - Sandra Neubauer
  • Sexuelle Gewalt – Nicht mit uns - Marion Grimm
  • Nein heißt Nein! - Hannah Kaltarar
  • Außer Rand und Band - Carlos Escalera
  • Die Kunst des Unmöglichen - Krisenteam Bethel.regional
  • Alles in mir zerspringt - Alex Kauk
  • Auf zu neuen Ufern - Dr. Sebastian Weinert, Erhan Orduhan, Meral Karakas, Caroline Keil
  • Handeln in Widerspruchsfeldern - Dr. Thomas Mäule
  • 551 Disziplinierungsversuche - Dr. Christian Geyer
  • Cartoon - Phil Hubbe
  • Selbstständig unterwegs - Ralf Küssner
  • Adolescence - Dr. Christian Geyer
  • Plane deine Zukunft - Ralf Küssner

Liebe Leserin,
liebe Leser,

Gewalt ist ein gewaltiges Wort. Es klingt nach Schlägen, nach Schreien, nach Eskalation. Aber oft kommt die Gewalt leise daher. Sie schleicht sich ein in Strukturen, in Routinen, in Gedanken, in Worte – und wird allzu oft bagatellisiert und übersehen. Menschen mit Behinderungen erfahren Gewalt nicht erst mit der Faust, sondern durch Blicke, in beiläufigen Sprüchen und in übergriffigem Verhalten, das sich gerne mit der Maske der Fürsorge tarnt.

Es ist die Gewalt der Ignoranz, wenn Bedürfnisse übergangen werden. Es ist die Gewalt der Routine, wenn der Mensch im System verschwindet. Es ist die Gewalt der Sprache, wenn über jemanden gesprochen wird statt mit ihm. Gewalt geschieht, wenn niemand zuhört. Wenn niemand widerspricht. Wenn niemand mehr fragt, ob ich das eigentlich darf. Und es ist eine Form struktureller Gewalt, wenn in Einrichtungen und Diensten für Menschen mit Beeinträchtigungen Überlastung zur Norm und Menschlichkeit zur Kür wird.

Die genauen Zahlen der täglichen Gewalt bleiben im Dunkeln. Und selbst wenn die dunklen Ziffern der Gewalt lesbar wären, würden sie nichts vom Schmerz, nichts von der Demütigung, nichts vom gebrochenen Vertrauen erzählen. Die besonders grausamen Fälle schaffen es an das Licht der Öffentlichkeit, und gleichzeitig verschwinden die Opfer hinter der Fassade aus Expertenstatements und Spekulationen, die das Unerklärliche zu erklären versuchen. So wie bei einem Polizei-Psychologen, der meinte, die Morde an Menschen mit Beeinträchtigungen könnten verübt worden sein, um sie von ihrem Leid zu erlösen. Eine Aussage, die selbst ableistisch ist, weil sie das Narrativ nährt, ein Leben mit Behinderungen sei weniger lebenswert.

Ability Watch recherchiert seit 2021 Fälle von Gewalt und veröffentlicht sie unter dem Hashtag #AbleismusTötet. Es ist ein Versuch, die systematische Verharmlosung zu durchbrechen, denn Gewalt wird zu oft kleingeredet. Doch Gewalterfahrungen können gar nicht groß genug erzählt werden – von Betroffenen, von Fachkräften, von Angehörigen. Nur so entsteht ein Bewusstsein für die stillen Spielarten des Unrechts. Nur so lernen Menschen hinzusehen, zuzuhören und ihre Stimme zu erheben: im Team, gegenüber Kolleg:innen, gegenüber Angehörigen.

Gewaltfreiheit ist ein Menschenrecht. Sie ist die Grundlage für Würde, für Teilhabe und für Selbstbestimmung. Gleichzeitig lehrt die Geschichte der Menschheit, dass dort, wo Menschen zusammenleben, Gewalt existiert. Wir können sie nicht weghoffen. Wir müssen hinhören. Wer die Gewalt hört, macht sich nicht zum Echo ihrer Wirkung. Gewaltfreiheit ist nämlich mehr als ein Ideal. Sie ist, wie der Harvard-Philosoph John Rawls es nannte, eine „realistische Utopie“.

Ihr Christian Geyer
Redaktionsleiter

Leseprobe
Alex Kauk: Gewalt?