Heft 4/2016: Vorurteile
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
Marianne Vogt ist Mitglied im Bundesangehörigenbeirat (BaB) im BeB. Sie hat sich für uns umgehört bei Eltern von Kindern mit Behinderung:
- „Im Krankenhaus. Unser Sohn Philipp war gerade ein halbes Jahr alt. Eine Krankenschwester sah von weitem, wie ich Philipp auf dem Arm hielt und sagte: ‚Wie süß, ein kleiner Junge.‘ Als ich ihr sein Gesicht zeigte, verwandelte sich schlagartig ihr Ausdruck von Fröhlichkeit in Trauer undAngst. Sie wandte sich ab und ging ohne ein Wort. Ihre Reaktion war für uns so erschreckend, dass mir der Atem stehen blieb. Noch heute, 17 Jahre später, kann ich dies nicht vergessen.“
- „Wir fuhren unseren Sohn Simon, der das Down-Syndrom hat, in seinem Buggy spazieren. Mit seinen 5 Jahren füllt er ihn schon recht ordentlich aus. Von hinten näherte sich eine Gruppe jüngerer Kinder. Als sie den Wagen sahen, riefen sie erfreut: ‚Ein Baby‘ und rannten zu uns, um es anzusehen. Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich schlagartig von Freude zu Entsetzen als sie unser ‚Riesenbaby‘ erblickten. Und schnell waren sie wieder weg.“
- „Meine Tochter ist schwer mehrfach behindert, und ich schiebe sie in ihrem Rollstuhl oft spazieren. Wenn die Leute dann schauen und starren, würde ich ihnen am liebsten ein Bild von meinem Kind überreichen: ‚Hier, da können Sie sie in Ruhe zu Hause betrachten‘.“
- „Kathrin ist 49 Jahre alt. Sie hat eine Hirnschädigung. Sie war immer ein lebhaftes Kind. So machte sie in den in den Geschäften oft das Spiel ‚Tür auf – Tür zu‘. Einmal fi el sehr laut die Bemerkung: ‚So ein unerzogenes Kind, hätte mal die Mutter ihr Kind nicht so verzogen‘.“
- Ein 50-jähriger Mann mit Down-Syndrom wird nach dem Tod der über 80-jährigen Mutter in einer Wohnstätte aufgenommen. Die Mutter hat sich um ihren Sohn ein Leben lang gekümmert, was in den letzten Jahren – altersbedingt – nicht mehr durch viele Aktivitäten geprägt war. Die Worte zur Vorstellung des neuen Bewohners durch eine Heilpädagogin schmerzen: „Er kommt aus seinem monotonen Leben mit seiner Mutter in ein Leben voller Aktivität.“
Als Eltern und Geschwister von Kindern mit Behinderung sind diese Erfahrungen oft Alltag. Auch wenn nicht jedes „Gucken“ böse gemeint ist, versetzen diese Situationen einen Stich. Die Folge: Man zieht sich zurück, bestimmte Situationen versucht man zu meiden. Man wird dünnhäutig. Die Aussagen führen uns mitten hinein in das Thema Vorurteile: Mit unseren Bildern gehen wir auf die Welt, auf andere Menschen zu, haben Vor-Urteile, die zu Urteilen werden können. Denken Sie nach über Ihre Vor-Urteile. Die Artikel in dieser Orientierung geben Gedankenanstöße.
Ihr
Martin Herrlich
Editorial und Inhaltsverzeichnsi (PDF-Datei, 186 kb)
Autoren dieser Ausgabe
Böhm, Mag. Martin, Soziologe und Dipl. Behindertenpädagoge, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Abteilung Qualitätsmanagement, pro mente Oberösterreich, http://www.promentepraevention.at/, Unterricht am Ausbildungszentrum für Sozialbetreuungsberufe der Caritas OÖ http://www.sob-linz.at, http://www.m-boehm.net, Linz
Burkat, Gerald, tätig bei der Stadt Bielefeld, Büro für Integrierte Sozialplanung und Prävention, Bielefeld, www.bielefeld.de
Freiseis, Ulrike, Dipl. Sozialpädagogin (FH). Seit der Geburt der Tochter nicht mehr berufstätig. Vor 14 Jahren Mitgründerin von SMILE e. V. St. Leon–Rot, ein Verein von Eltern von Kinder sowohl mit als auch ohne Behinderungen, Vorsitzende von SMILE e. V. Der Verein fördert die Kontakte zwischen Menschen mit und ohne Handycap und setzt sich für inklusive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ein. www.smile-slr.de
Göder, Annette, Freie Journalistin, Kiel
Graf-Fischer, Gisela, Dipl. Sozialpädagogin, Bereichsleiterin Wohnen, Samariterstiftung, Behindertenhilfe Ostalb, Aalen
Harter, Stefanie, Sozialpädagogin/Sozialarbeiterin Bachelor of Art, ambulant Betreutes Wohnen (Offene Hilfen) Diakonie Kork
Herrlich, Martin, Redaktion Orientierung, www.beb-orientierung.de und Evangelische Fachschule für Heilerziehungspflege Schwäbisch Hall, www.hepschule-sha.de
Joggerst, Karin, Politologin, Anti-Bias-Trainerin und systemische Beraterin. Lehrbeauftragte für inklusive Unterrichtsentwicklung in der Schweiz. Kontakt www.anti-bias-freiburg.de
Kaltarar, Hannah, Empirische Kulturwissenschaftlerin/Rhetorikerin, Pressesprecherin in der Diakonie Stetten e. V., Kommunikation, Spenden und Marketing, www.diakonie-stetten.de
Kühn, Dr. Marion, Bielefeld, www.marion-kuehn.de
Lallathin, Richard, Pfarrer, Evangelisches Pfarramt bei der Johannes-Diakonie Mosbach, www.johannes-diakonie.de
Maskos, Rebecca, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Bremen im Bereich Soziale Arbeit und freie Journalistin. Im Jahr 2012 brachte sie den Online-Ratgeber Leidmedien.de mit auf den Weg. Sie schreibt und forscht aus den Perspektiven der Disability Studies und der Behindertenbewegung, rebecca-maskos.net
Metwalli, Mohamed, Musiker, blind foundation, Frankfurt am Main
Ordnung, Hans, Diplom-Pädagoge, Leiter Kerstin Heim, Internat mit Förderschule – Schwerpunkt geistige Entwicklung, Kurzzeitpflege für Kinder und Jugendliche mit Hilfebedarf und Betreutem Wohnen, Marburg, www.kerstin-heim.de
Quednow, Ute, Geschäftsführerin Service-Center Diakoniemarketing und Qualitätsentwicklung, Pressesprecherin und Pastorin, Diakonie Himmelsthür, www.diakoniehimmelsthuer.de
Autorenverzeichnis und Impressum (PDF-Datei, 85 kb)
Leseprobe
Mitten drin?
Vorurteilserfahrungen in einer Kleinstadt im Süden
Gisela Graf-Fischer, Samariterstiftung Behindertenhilfe Ostalb, Aalen
Menschen mit Unterstützungsbedarf leben nicht mehr nur auf der grünen Wiese, sondern auch mitten in der Stadt. Das ist gut so. Das ist aber nicht immer einfach! Vorurteile des Umfeldes machen das Leben der Menschen mit Unterstützungsbedarf schwer. Oft völlig unangemessen, fi ndet Gisela Graf-Fischer, die als Bereichsleiterin Wohnen immer wieder mit Vorurteilserfahrungen konfrontiert wird.